"Abend ward's und wurde Morgen, nimmer, nimmer stand ich still; aber immer blieb's verborgen, was ich suche, was ich will." F. Schiller
Ich laufe durch dunkle Gänge. Wieso bin ich hier? Ich begreife nicht, dass ich tatsächlich hier sein soll. Hier in der Dunkelheit. Träume ich? Nein, es ist kein Traum. Der Boden auf dem ich laufe, fühlt sich kalt und staubig unter meinen nackten Füßen an, ich spüre ihn ganz deutlich. Seine Kälte zieht durch meinen Körper mitten in mein Herz und schnürt mir schließlich die Kehle zu.
Warum bin ich hier? Niemals, das weiß ich, würde ich mich in solch eine Situation begeben. Niemals. Und doch laufe ich gerade durch diese dunklen, unbekannten Gänge und bin von einer ebenso dunklen Sehnsucht getrieben. Was ist das für eine Sehnsucht, die mich durch diese Dunkelheit treibt, die mich trotz meiner Ängste immer weiter und weiter laufen lässt? Nicht mehr Herr meiner Sinne, tragen mich meine Füße weiter voran. Patsch-patsch-patsch hallt es von den Wänden wider. Es ist so still hier unten. Ich höre meinen Atem laut die fremde Stille durchbrechen. Ich laufe und laufe und suche nach ihm.
Vor ziemlich genau einer Woche war meine Welt noch in Ordnung gewesen. Alles lief wie gewohnt. Alles war ruhig. Ich war ruhig. Oder war ich es vielleicht doch nicht? Bildete ich mir nur ein ruhig zu sein? Habe ich mir vielleicht jahrelang nur eingeredet, dass ich das was ich lebe auch will? Das ich das, was ich lebe auch bin? Wenn ich nun nicht bin, was ich glaube zu sein, wer bin ich dann? Eine ruhige Frau mit Plänen für die Zukunft? Eine Frau, die Gewohnheiten mochte, welche ihr diese beruhigende Sicherheit vermittelte? Endlich, so dachte ich, lebe ich ein Leben, so wie es sein sollte. Geordnet, ruhig. Durchgeplant. Vorhersehbar. Und dann traf ich ihn. Er war einfach da. Stand da. Sagte nichts. Schaute bloß. Sein Blick durchbohrte mich, drang gnadenlos in mich ein. Erfasste direkt mein so ruhiges Herz und brachte es zu Fall. Und es fiel unendlich tief. Und dann war sie weg, meine hart erkämpfte Ruhe. Mein Frieden. Meine Ordnung. Ohne jedes Wort nahm er mich gefangen und ließ mich in seiner Unnahbarkeit leiden. Seit diesem Moment ist mein Blick verändert. Er hat alles in meiner funktionierenden Welt mit einem Blick und seiner Anwesenheit von jetzt auf gleich verändert und zunichte gemacht. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Was zur Hölle war passiert? Ich wollte zurück in mein Leben. Ich wollte meinen Frieden wieder. Doch ist die Seele erst einmal an den Ufern unbekannter Sehnsucht gestrandet, wie soll sie da noch ruhig über die Wogen des Altbekannten dahingleiten? Das Verlangen wurde unerbittlich. Die Sehnsucht wurde zu körperlichem Schmerz. Plötzlich dachte ich an Dinge, die mir fremd waren. Ich dachte an Dinge die meinen Körper beben und ihn qualvoll in seiner ungestillten Lust leiden ließen. Wie konnte ein einziger Augenblick alles verändern? Etwas so solides und starkes wie mich und meine Welt derart erschüttern? Ich wurde blind für jegliche Vernunft. Vernunft existierte, wenn überhaupt, nur noch als kleiner Fleck, abseits meines Blickfeldes. Und sie verschwand immer mehr. Sehnsucht setzte mir ihre Scheuklappen auf. Verlangen trieb mich mit unerbittlicher Peitsche voran.
Jetzt bin ich hier. Ich war ihm gefolgt als er gehetzt durch die Straßen lief. Wohin ging er? Ich musste es wissen.. Ich konnte nicht noch weitere Tage in dieser Qual überstehen. Ich muss ihm noch einmal in die Augen schauen, seinen Blick auf mich gerichtet wissen. Ja, ich wollte ihn. Ich wollte schon lange nichts mehr so sehr wie ihn. Mein Herz und meinen Verstand nahm er in nur einen Augenblick für sich ein. Und ich wollte, dass er alles von mir in Besitz nahm. Nichts konnte mich jemals wieder zurück zu mir bringen. Ich bin nicht mehr ich. Ich wurde neu geboren und war bereit mich ihm zu unterwerfen.
Gerade noch konnte ich erkennen, wie er im nahe gelegenen Wald durch eine Metalltür im Boden verschwand. Der Wunsch, ihn hier unten zu finden, nimmt mir meine Angst.Also öffne ich die schwere Metalltür und schlüpfe durch das Loch in der Erde. Es ist dunkel um mich herum. Ich kann kaum die Hand vor Augen sehen. Einen Moment lang bleibe ich stehen und lausche in die dunkle Unendlichkeit. Die Furcht vor dieser Dunkelheit, in der ich mich zu verlieren scheine, ist nicht so groß, wie die Furcht davor, ihm niemals richtig begegnet zu sein. Die Dunkelheit, ja, sie greift nach mir, zieht mich zu sich und treibt mich schließlich voran. Näher zu ihm. Zu ihm. Ihm.
So viele Abzweigungen und Türen die ungeahntes verbargen. Türen, die ich mich kaum zu öffnen traute. Das Ungewisse macht mir angst. Das Ungewisse macht mir angst und lässt mich doch gleichzeitig freudig erzittern. Deshalb bin ich hier und suche nach ihm. Weil der Gedanke an ihn meinen Verstand ausschaltet, meinen Mund trocken werden lässt, mein Herz zum klopfen bringt und mich wollüstig aufstöhnen lässt. Deshalb bin ich hier. Weil er mir das Leben in seiner intensivsten Form wiedergegeben hat. Deshalb laufe ich ihm still und heimlich mitten in der Nacht hinterher. Barfuß. Meine Begierde war unendlich. Wer war er? Wieso machte er das mit mir? Ich musste es heraus finden. Jetzt.
Dort hinten ist etwas. Ich eile auf das schwache Licht zu. Als ich um die Ecke biege, ist dort eine kleine Tür. Ungefähr ein Viertel der Größe einer normalen Tür. Sie steht etwas offen und neugierig bücke ich mich, um in den Raum hineinzuschauen. Es führt eine Treppe hinab und unten brennt Licht. Graue nichtssagende Steinwände. Nackt und trist. Ein Handlauf aus Metall, welches seinen Glanz verloren hat, bietet sicheres Geleit hinunter. Dann sehe ich ihn. Ich kann mich nicht rühren. Angewurzelt, wie versteinert verharre ich und schaue, kniend auf allen Vieren, hinunter zu diesem Mann, der eigentlich etwas so abscheuliches tat, dass ich auf der Stelle aufstehen und fliehen sollte. Doch ich bleibe. Bleibe bei ihm. In der Dunkelheit, der Stille und dem schrecklichsten Akt, den man sich vorstellen kann.
Eine dunkelhaarige Frau, die an den Haaren von ihm weiter in den Raum nach hinten über den kalten, grauen Steinboden gezogen wird. Sie lebt, denn sie windet sich etwas. Gibt aber nicht einen Laut von sich. Ihre Augenlider flattern. Sie will in ihre ganz eigene Dunkelheit fallen. Sie ist zu schwach, um sich jetzt noch zu wehren.
Er blickt zu mir hoch. Durchdringt mich. Kurz überlege ich, ob ich ihm meine Hilfe anbieten soll. Egal was, ich wollte alles mit ihm teilen. Doch dann greift er zu einem schweren großen Gegenstand. Er drückt diesen ganz langsam mit bedacht in das Gesicht der Frau. Er drückt mit abscheulicher Kraft. Blut beginnt zu fließen, denn er zerdrückt ihr die Augen, drückt ihr die schön geschwungene Nase kaputt, zerstört die wohlgeformten Wangenknochen. Dann steckt er das eine Ende dieses Gegenstandes in ihren Mund und drückt ihn gegen ihren Kiefer. Er öffnet diesen und reißt den Kiefer schließlich von ihrem Gesicht. Ich kann kaum glauben, was ich sehe. Dieser Mann hat ihr das verdammte Gesicht genommen. Er hat es brutal und in aller Ruhe zerstört. Ich spüre Ekel in mir aufsteigen. Doch auch jetzt kann ich nur an ihn denken. Er blickt zu mir hoch. In seinem Blick kann ich kurz Schmerz und Trauer erkennen. Doch noch bevor ich darüber nachdenken kann, funkeln mich seine Augen wild an. Ich bebe. Und sehne mich immer noch danach mich in seinen Armen zu verlieren. Hier. Jetzt. Hier, wo er ein Leben genommen hat, möchte ich, dass er mir ein neues gibt. Blut, überall ist Blut. Dunkles, noch warmes Blut, welches mir keine Angst macht, sondern mich zu ihm zieht. Rot.
Endlich bewege ich mich und löse mich aus meiner Starre. Ich möchte zu ihm. Als ich mich durch die viel zu kleine Tür gequetscht habe, ist er nicht mehr da. Ich laufe die Stufen hinunter und plötzlich steht ein in dreckigen Lumpen gehüllter Mann vor mir. Sein Gesicht ist ebenso von Lumpen verdeckt. Ich kann nicht erkennen, wer er ist. Er hält mir eine Pistole entgegen. Ich bleibe stehen, erschrecke und lasse mich, in der Gewissheit jetzt zu sterben, zu Boden fallen. Ich falle in ihr Blut. So warm ist es jetzt gar nicht mehr. Das Blut dringt kühl durch meine Kleider und lässt mich nun klarer denken. Ich warte auf das Ende. Doch kein Schuss fällt. Vorsichtig blicke ich auf. Todesangst macht sich in mir breit, breitet sich wie ein fauliges Geschwür in meinem Kopf aus. Der Mann zeigt nach oben. Irritiert und erleichtert raffe ich mich auf und versuche so schnell wie möglich die Stufen hinauf zu kommen. Dann laufe ich. Drehe mich nicht um. Nur von einem Gedanken getrieben, laufe ich meiner Freiheit entgegen. Nach einer Ewigkeit stemme ich mich gegen die Metalltür und atme die befreiende kalte, feuchte Nachtluft.
Jetzt laufe ich nicht mehr. Ich gehe ruhig und beherrscht nach Hause. War ich doch kurz davor mein Herz zu verlieren. Töricht, oder nicht?
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Die obere kleine Geschichte basiert übrigens auf einen von mir geträumten Traum. Schon ein bisschen schräg. Im Traum war das Gefühl des Verlangens, was alles andere in den Hintergrund rücken lässt, nicht so ausgeprägt, sollte aber in dieser Geschichte eine tragende Rolle haben. Ich hoffe natürlich ein wenig, dass ich beim Leser dieses Gefühl transportieren konnte.
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