Freitag, 2. November 2018

Aeterna Nihil

Fünfzehn

Wunderschön. Dieses Wort, wunderschön, es geht mir immer und immer wieder durch den Kopf. Die Luft ist mild. Es fühlt sich nach einem Sommer voller Möglichkeiten an. Wir haben Juni und der Sommer steht gerade in den Startlöchern und verspricht fantastisch zu werden. Eine leichte, kaum merkliche Brise berührt die Haut in meinem Gesicht. Die Luft riecht unglaublich. Nach Blättern und Gräsern. Nach Tannen und Blumen. Sie riecht würzig frisch und rein. So rein. Es fühlt sich fast wie Glück an. Ja, ich verspüre diesen kleinen Funken Glück in mir. Wunderschön.

Vierzehn

Es ist still hier oben. Friedlich. Frieden. Die Sonne wärmt meinen Körper und lässt ihn wohlig schaudern. Ich atme tief ein und aus, genieße jeden Atemzug und erlebe jeden ganz bewusst. Die Luft riecht so gut, dass ich bedaure ausatmen zu müssen. Ein. Und aus. Immer wieder. Ganz bewusst. Ich halte meine Augen geschlossen. Ich muss die Welt nicht sehen. Ich möchte sie spüren. Ich möchte sie erleben. Leben.

Dreizehn

Gestern war mein Geburtstag. Im Juni Geburtstag zu haben ist eine gute Sache. Man hat einfach oft das Glück, dass es sehr warm ist und einem somit alles offen steht, wie und wo man seinen Geburtstag feiern möchte.
Wir haben im Garten gefeiert. Meine Mutter hat sich mit der Geburtstagstorte dieses Jahr selbst übertroffen. Eine in Fondant gepackte Köstlichkeit. Danke Mama. Danke für alles. Später haben wir gegrillt, laut Musik gehört und ausgelassen getanzt. Alle waren eingeladen. Alle Freunde, Verwandte und Nachbarn. Je mehr kamen, desto schöner wurde die Party. Wir haben gesungen und getanzt bis wir nicht mehr konnten und unsere Stimmen heiser wurden. Dann haben wir weiter gemacht. Es war der schönste Geburtstag den ich je erlebt habe. Geschenke wollte ich aber keine. Das größte Geschenk war die Freude die ich empfand. Freude und Dankbarkeit. Gestern.

Zwölf

Ich bin auf den höchsten Berg geklettert den es hier bei uns im Umkreis gibt. Letzte Nacht habe ich nicht geschlafen. Keinen Augenblick wollte ich verpassen. Es ist Juni. Die Nacht war sehr mild und freundlich.
Ja, ich habe mich still und heimlich fort geschlichen. Sowas macht man nicht. Aber was hätte ich auch sagen sollen? Die Leute hatten so viel Alkohol getrunken, die haben es nicht bemerkt. Auch ich habe Alkohol getrunken. Obwohl ich erst siebzehn geworden bin, durfte ich dieses leckere Gingerbier trinken, von dem Mama immer so schwärmt. Mama hat mir nur zugezwinkert. Betrinken wollte ich mich aber nicht. Ich wollte Herr meiner Sinne bleiben. Als alle am ausgelassensten waren, schlich ich davon. Ich blickte nicht zurück. Wozu? Danke für alles.

Elf

Es ist schon erstaunlich wie schnell man erwachsen wird. Dabei ist meine Kindheit eigentlich noch gar nicht vorbei. Und doch erscheint sie mir jetzt so weit weg. Hier oben auf diesem Berg, wo die Sonne mich wärmt. Und obwohl die Sonne mich mich in ihrer Wärme wiegt, spüre ich diese Kälte. Eine kriechende Kälte, die immer präsenter wird. Nun kann ich sie auch nicht mehr ignorieren. 
Wo ist meine Unbeschwertheit? Wo sind meine Träume? Hoffnungen? Mit leeren Augen blicke ich in die Ferne. Dort warten sie, still und geheimnisvoll. Und sind nun unerreichbar geworden.

Zehn

Es ist bereits Vormittag. Die Sonne steht schon weit oben am Himmel und brennt auf meinen Körper nieder. Doch jetzt gerade kann sie nicht warm genug sein. Keine Wärme der Welt kann mein Zittern verhindern. Ich sitze hier in der Sonne und zittere. Ich lebe. Ein. Und aus. Der Wind ist etwas kräftiger geworden und nimmt mir die Hitze etwas aus meinem Gesicht. Als ich fünf Jahre alt war, da saß ich einmal sehr lange in der warmen Sommersonne. Ich spielte mit den schönen Steinen, die ich so gerne sammelte. Je mehr sie glitzerten, desto besser. Über bunte Steine, die auch noch glitzerten freute ich mich am meisten. Frieden.
Dann plötzlich endete dieser harmonische Moment von jetzt auf gleich in einem schmerzhaften Chaos, da mein Bruder mir einen Eimer eiskaltes Wassers über den Kopf schüttete.
Erleben. Leben. Danke Bruder.

Neun

Ich habe Billy aus der 12. geküsst. Es war eine spontane Aktion. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe es einfach getan. Wieso habe ich nicht schon immer Dinge getan, die ich wollte? Wieso erst jetzt? Erleben.
Billy küsste mich zurück und hielt mich für diesen Augenblick fest in seinen Armen. Es war ein glücklicher Moment. Wir tauschten schüchterne Blicke. Sagten aber kein Wort. Wir brauchten keine Worte. Nur diesen Moment. Leben.
Sieh dir das an. Wow. Wie grün die Welt doch ist! War sie das schon immer? So grün und wunderschön? Wunderschöne Welt.

Acht

Zittern. Leichtes Beben. Ich lasse mich auf die Erde fallen und spüre den Schmerz nicht, als ich hart auf meinem Gesäß lande.Irgendwas ist kalt in meinem Gesicht. Meine Finger berühren meine nassen Wangen. Habe ich geweint?


Sieben

Ich hatte bisher noch keine Pläne gemacht, wie es mit mir weiter gehen sollte. Studieren? Oder nach der Schule noch ein wenig wildes Leben? Jetzt sage ich studieren. Jetzt gerade würde ich alles dafür geben, studieren zu dürfen. Egal was. So kann sich alles ändern. Die Schulzeit war klasse. Schade, dass sie nun beendet wird. Neben all dem Lernen, muss man auch mal sehen, wie viel Zeit wir mit Freunden verbringen konnten. Wie viel wir doch lachten. Die Pausen, die wir mit Dingen wie Jungs, Partys, Stress mit den Eltern und anderen ach so wichtigen Pubertätsthemen reichlich ausfüllten. Das waren unsere großen Sorgen des Lebens. Leben.


Sechs


Habt ihr einen Bruder? Ich habe einen. Er ist der Beste. Auch wenn ich das nicht zugegeben habe. Er ist es. Er ließ zwar nie eine Gelegenheit aus mich zu ärgern und brachte mich manchmal wirklich an den Rand der Verzweiflung. Wie das halt so ist mit Geschwistern. Doch in schwierigen Situationen war er immer für mich da. Der Beste! 

Fünf



Die letzten Tage waren die besten meines Lebens. Ist das nicht traurig? Vielleicht ein wenig. Viel trauriger wäre es, sie nicht erlebt zu haben. In den letzten Tagen sind alle ein bisschen näher zusammen gerückt. Wer hätte das gedacht? In den Augen des anderen lasen wir alle das gleiche. Es verband uns. Es war unsere Stärke und schlimmste Schwäche. Wohlwollend und respektvoll. Erleben. Noch nie war ich so voller Liebe gewesen. Ich atmete Liebe aus und wieder ein. Liebe trug mich durch diese Stunden. Liebe zeigte mir all die Schönheit, die ich so oft nicht sehen konnte. Leben. Wunderschön.

Vier

Meine Eltern. Geht es ihnen gut? Ja, ich habe sie verlassen. Aber das spielt keine Rolle mehr. Nichts wird bald eine Rolle spielen. Nichts. 
Eltern können echt nerven. Alle Kinder wissen das. Man liebt sie und hasst sie. Man schämt sich für sie. Man ignoriert sie und straft sie mit Schweigen. Sie sind mit mir die siebzehn Lebensjahre zusammen gegangen. Siebzehn. Ich danke euch. Ich liebe euch. Ich weiß, dass ihr das wisst. Ich bin bei euch. Ihr seid bei mir. Noch nie waren wir uns so nah. Ihr ward meine Welt.

Drei

Jetzt muss ich wieder weinen. Die Sonne wird bald nicht mehr zu sehen sein. "Aeterna nihil". So nannten sie dich. So viel Zeit hatten sie noch, dem Unausweichlichen einen Namen zu geben. Doch niemand wird sich je an deinen Namen erinnern können. du wirst alle Erinnerungen mitnehmen. Aber die Dinge müssen immer einen Namen haben, oder? Aber du hättest keinen gebraucht. "Aeterna nihil" ist sehr treffend muss ich gestehen. Dass du einen Namen hast, ändert gar nichts. Nichts. Du bist was du bist und tust, unweigerlich, was du tun wirst. Ein letztes Aufbegehren. Ein letztes aufbäumen meines Körpers, meines Verstandes. Mein Geist, der nicht verlassen will, der nicht akzeptieren will. Ich stelle mich dir trotzig entgegen. Heuchle Mut. Als würde ich mich einem Kampf stellen. Ein Kampf, welcher noch ungerechter ist, als der von David gegen Goliath. Heute, jetzt, muss nur noch ein Kampf gewonnen werden. Der Kampf mit sich selbst, der Kampf Unausweichliches zu akzeptieren.

Zwei

Die Sonne ist verschwunden. Es ist dunkel und plötzlich eiskalt. Der Sommer ist verschwunden. Nie wieder Juni oder Billy aus der 12. küssen. Oder Atmen. Oder leben. Es ist ruhig und auch wieder nicht. Sie weinen, sie schreien. Sie sterben. Sie sterben mit mir. Alles stirbt. Der Berg unter mir zittert nun mehr als ich. Mein Zittern spüre ich nicht mehr. Ich fühle mich fast körperlos. In meinem Kopf schreit es. Ich schreie. Und jeder Gedanke intensiv und glasklar. Zum greifen nah. Gleich. Endlichkeit. Jetzt ist der Moment, Scotty. Please beam me up.

Eins

Ich schreie es laut hinaus. Ich schreie es dir ein letztes Mal entgegen. Wieso? Ein letztes Mal. Wieso jetzt? Wieso so endgültig? Ich schreie es mit aller Kraft, bis mir die Kehle schmerzt, bis ich meine Stimme verliere. Bis ich nur noch schwer atmend deine Gewalt empfangen kann. Ich lebte, ich liebte, ich hoffte... Wieso nimmst du alles Leben? Wieso nimmst du meines? Wieso zerstörst du aller Hoffnung? Alles Leben? Wo bist du hergekommen? Wieso wusste ich nichts von dir?
Ich bin wütend. Ich bin unendlich wütend auf dich. Weil du so erbarmungslos in deiner Endgültigkeit bist. Was bedeuten jetzt noch die Tränen auf meinen Wangen? So viel Liebe. So viel Leben. Und dann? Nichts....

Aeterna nihil (Nichts ist ewig)



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